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Geistliche Hausapotheke

23.10.2022

Verkehrte Welt

Foto: Peter Weidemann, in: Pfarrbriefservice.de

Das heutige Sonntagsevangelium kommt mir vor wie eine Karikatur - so stark überzeichnet der Evangelist Lukas die Gegensätze zwischen den beiden Hauptpersonen: da gibt es einen ganz vorne im Tempel und einen ganz hinten, einen Gerechten und einen Sünder, einen Wortreichen und einen Wortkargen, einen mit zahlreichen religiösen Verdiensten und einen mit leeren Händen und - aufgepasst: jetzt schlägt es um! - einen Selbstgefälligen und einen Gottgefälligen...in den Augen Jesu ist die nämlich Haltung des Zöllners im Tempel vorbildlich, die des Pharisäers bleibt dagegen fragwürdig. - Sicherlich regte sich an dieser Stelle Empörung bei den Zuhörern Jesu, die sich mit dem Pharisäer identifizierten!

Deren Gesetzestreue hatte ja durchaus ehrenwerte Motive: Es ging ihnen um die Heiligung des Alltags durch die Tora. Nicht nur die Tempelpriester, sondern alle Juden sollten neben den Zehn Geboten noch 613 weitere Reinheits- und Speisegebote befolgen. Wenn das nur an einem einzigen Sabbat gelänge - so ihre Überzeugung - dann würde der Messias kommen und Israel erlösen. Doch nur die Gebildeten konnten dieses komplexe Regelwerk kennen und einhalten. Die einfachen Leute, die Armen, die mit unreinen Berufen, waren von vornherein chancenlos und wurden von den Pharisäern verachtet, denn sie verhinderten ja das Kommen des Messias.

Wodurch wird der Mensch letztlich gerecht vor Gott? - so lautet die unausgesprochene Frage in diesem Gleichnis (...und 1500 Jahre später auch die Frage des Martin Luther). Jesu Antwort rüttelt an den frommen Traditionen seiner Zeitgenossen, vielleicht auch an den unseren: Nicht die penible Befolgung aller religiösen Gesetze oder Wohltätigkeit ist das Entscheidende, sondern das Vertrauen, dass ich, so wie ich bin, und mit allem, was mich ausmacht, zu Gott kommen darf - das Vertrauen, dass ich trotz allem, was mir misslungen ist und worin ich gefehlt habe, von Gott angeschaut und geliebt bin. 

Diese Erfahrung kann das Leben umkrempeln. Zwei biblische Zöllner-Geschichten erzählen uns davon: Zachäus kann unter dem liebevollen Blick Jesu sein Fehlverhalten eingestehen und Wiedergutmachung leisten. Matthäus lässt in seiner Zollstelle alles stehen und liegen und folgt Jesus nach, von dem er sich trotz seiner anrüchigen Tätigkeit angeschaut, geliebt und berufen erfährt. - Papst Franziskus bezieht sich auf den Zöllner Matthäus, wenn er in einem Interview sein Selbstverständnis mit den Worten umschreibt: "Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat." Diese Erfahrung der Gnade hat sogar Eingang gefunden in seinen Wahlspruch: "Miserando atque eligendo" - zu Deutsch etwa: "Aus Erbarmen erwählt."

Vielleicht möchten Sie sich heute eine Viertelstunde an einem stillen Ort gönnen.
Stellen Sie sich vor, wie Gott oder Jesus Sie anschaut...mit einem sehr liebevollen Blick.
Er sagt JA zu uns. Vor ihm müssen wir nichts verbergen. Er liebt uns mit zärtlichem Erbarmen.
Das kann unser Leben verändern. 

Ihre Gemeindereferentin Irene Keil