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26.03.2023

"Herr, wärst du hier gewesen..."

Foto: pixabay, in: Pfarrbriefservice.de

Das heutige Evangelium bewegt mich sehr. Es erzählt von drei Freund/innen Jesu, den Geschwistern Marta, Maria und Lazarus. Letzterer ist schwer krank und dem Tode nahe. Seine Schwestern schicken nach Jesus, aber ehe er eintrifft, stirbt Lazarus und muss begraben werden.

Wenn ich diesen Abschnitt aus dem Johannes-Evangelium höre, stehe ich in Gedanken auf dem kleinen Friedhof meines Heimatorts. Wir hatten den Text im September 1990 ausgewählt für die Beerdigung meines Bruders, der nach schwerer Behinderung starb. Der verzweifelte Ausruf der Maria: "Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben!" verlieh unserem Schmerz einen Ausdruck. Warum konnte unser Bruder nicht wieder gesund werden? Warum durfte er nicht leben? Wo war Gott angesichts seines Leides?

In der Bibel ereignet sich ein machtvolles Zeichen. Jesus erweckt den toten Lazarus zu neuem Leben. Nur: Der Evangelist hat hier kein geschichtliches Ereignis auf dem Friedhof von Bethanien protokolliert. Er konnte das so schreiben, weil er schon von Jesu Auferstehung wusste. Seine Glaubensüberzeugung war: Den Gott nicht im Tod ließ, der lässt auch keinen seiner Freunde im Tod. Sogar in Situationen, die hoffnungslos erscheinen, kann er neues Leben schenken. 

Diese Hoffnung, dass Jesus unseren Bruder ansprechen, anrühren und beleben würde, musste uns damals, im Jahr 1990, genügen. Ein großer Trost war mir hingegen, von einem Jesus zu lesen, der den trauernden Schwestern nicht übermenschlich abgeklärt begegnet: Er ist erschüttert. Er weint. Dieser Tod trifft auch ihn. - Unsere Familie musste am Grab nicht christliche Hoffnung ausstrahlen, nicht einmal ich, die ich im kirchlichen Dienst arbeitete. Unser Schmerz war Jesu Schmerz, unsere Erschütterung die seine. Ich konnte mir vorstellen, dass er mit uns weinte. Diesem Jesus, unserem gemeinsamen Freund, konnten wir unseren toten Bruder anvertrauen. 

Viele Geschichten in der Bibel schildern große Wahrheiten in verdichteter Form. Was der Evangelist in einem einzigen Kapitel unterbringt, braucht im wirklichen Leben oft Jahre und Jahrzehnte. Dass sich angesichts großen Leids das Empfinden einstellt, dass Gott an unserer Seite ist. Dass ihn alles bewegt, was uns bewegt. Dass wir uns an ihn wenden dürfen in unserer Verzweiflung. Dass er unsere Klagen und Vorwürfe aushält. Dass wir ihn mächtig werden lassen, wo wir ohnmächtig sind. Dass wir allmählich zu einem Vertrauen finden, das uns sagen lässt: "Ja, Herr, ich glaube, dass du das Leben bist." Dass wir neues Leben entdecken dürfen, von Gott gewirkt und geschenkt.

Heute noch bewegt mich dieses Evangelium. Sie auch?
Gern können wir uns darüber austauschen!

Ihre Gemeindereferentin Irene Keil